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Was für ein Leerstück

Es ist einfach so peinlich, dass jetzt die – anfangs gar nicht als geplant veröffentlichte – „Vergrabsteinung“ der Jürgen-Wullenwever-Straße als kommende Fahrradzone von der Autofahrlobby, populistischen Vereinfachungsfreaks und Grüne-SPD-Verschwörungs-Heinis dazu genutzt wird, gleich mal „die schleichende Entmündigung des Autofahrers“ anzuprangern. Geht es denn noch? Da werden im populistischen Wahn drei unabhängig voneinander existierende Bausteine der ganzen Aktion zu einem einzigen Mecker-Block zusammengeführt: 1. gerade mal 420 Meter Fahrradzone2. deshalb Grabsteine3. für satte 2 Millionen Euro. Grrrrmpf.
Werfen wir mal einen etwas nüchterneren Blick auf diese Posse:

  • Fahrradzone: Stimmt, die wird es geben!
  • Grabsteine: Die haben mit der Fahrradzone einfach mal gar nichts zu tun! Die sollen (abgesehen davon, dass ihre Anmutung tatsächlich eine Zumutung ist) die Autofahrenden abhalten, den laut Hansestadt Lübeck „beidseitigen zweireihigen, als Biotop geschützten Baumstreifen“ weiterhin so schädigend zu beparken

Und bevor wir drittens zum Geld kommen: Erstaunlich ist übrigens, dass im Rahmen der Vorstellung des Fahrradzonen-Projekts bei der Stadtteilkonferenz St. Gertrud im November 2022 eine Simulation der Neugestaltung veröffentlicht wurde, die mit der aktuellen Friedhofs-Deko (noch) nix zu tun hat:

Screenshot aus dem pdf zur Stadtteilkonferenz St. Gertrud am 16.11.2022 bei einem Posting von at Fahrräder Lübeck (Quelle: https://www.luebeck.de/files/rathaus/verwaltung/Stadtteilkonferenz/Stadtteilkonferenz%20St.%20Gertrud_16.11.2022.pdf)
So wurde die Fahrradzone bei der Stadtteilkonferenz St. Gertrud am 16.11.2022 präsentiert (Screenshot aus der offiziellen Präsentation)

Wann also hat sich wer diese schon 350 Anti-Auto-Maßnahmen ausgedacht, die nun dem Fahrrad-Wahn der Gutmenschen (aarggh) vorgeworfen werden?

  • und zu guter Letzt: 2 Millionen Euro: Ja, soviel kostet die Maßnahme. Aber Obacht: die gesamte Maßnahme!
    Inkludiert sind da – und die folgenden Zitate stammen aus der entsprechenden Pressemitteilung der Hansestadt Lübeck vom 3.5.2023 – zum einen die ohnehin „dringende Sanierungserfordernis aufgrund des sehr schlechten baulichen Zustandes der Fahrbahnen“, die einen „Vollausbau mit Austausch und Erneuerung des gesamten gebundenen und ungebundenen Fahrbahnaufbaus“ nötigmachte, damit anschließend „die Fahrbahnflächen wieder in klassischer Asphaltbauweise hergestellt“ werden konnten. Das dient also schon mal allen, die diese Straße nutzen werden.
    Zum zweiten müssen „die für den ruhenden Verkehr vorgesehenen Parkflächen“ neben der Fahrbahn parallel angeordnet und „mit Natursteingroßpflaster belegt“ werden. Autos ma sagen, hallihallo!
    Für alle zu Fuß wurden überdies nicht nur die neuen „Überfahrten“ und „Trittstreifen“ noch mit Klinkerpflaster befestigt, sie profitieren auch von der „Erneuerung des westlichen Gehweges entlang der Grundstücke“, die im Gegensatz zur Instandsetzung des östlichen Gehwegs, die „bereits im Zuge der unmittelbar vorangegangenen Leitungsverlegungen durch die Medienträger“ erfolgte.
    Und weil die Bäume ringsum bisher so wurzel- und wachstumsschädlich zugeparkt wurden (nicht von Fahrrädern, claro), wurden wegen der dadurch „stark verdichteten Oberbodenschichten Bodenauflockerungen mit sogenannten Kavernen und Einblasen von Substrat“ nötig, „um die Wachstumsbedingungen für die Wurzeln und damit die Standfestigkeit der Bäume mittelfristig zu verbessern“.
    Und nicht zuletzt wurde außerdem die Straßenentwässerung (Sickergraben) gleich mit erneuert.

Fassen wir zusammen: Der Friedhofstyle überraschte alle, aber die Stelen haben mit der Fahrradzone nix zu tun. Und nahezu alle Kosten, die sich insgesamt auf 2 Millionen Euro summieren, wären auch ganz ohne Umgestaltung zur Fahrradzone nötig gewesen!
Wie teuer Fahrradzonen oder Fahrradstraßen allein werden, hatte das zuständige Schleswig-Holsteiner Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus bereits anno 2021 veröffentlicht. In Zusammenarbeit mit dem ADFC Schleswig Holstein entstand eine „Handreichung Fahrradstraßen“, in der es u.a. ums Finanzielle geht. Ohne Vollausbau – der in der Jürgen-Wullenwever-Straße ohnehin dringend angezeigt war – wären eben nur die Kosten für Beschilderung, Markierung und Poller (die schmalen auf der Straße, nicht solche Grabsteine daneben zur Park-Verhinderung!) angefallen:

Aufstellung der Kosten bei der Errichtung einer Fahrradstraße aus der „Handreichung Fahrradstraßen“, die vom ADFC Schleswig Holstein und dem zuständigen Ministerium im Jahre 2021 veröffentlicht wurde und hier bei at Fahrräder, dem Lübecker Fahrradladen, dargeboten wird (Quelle: https://www.schleswig-holstein.de/mm/downloads/LBVSH/Presse/2021/Pressemitteilungen/Handreichung_Fahrradstra%C3%9Fen_ADFC_SH.pdf)
Schon 2021 vorgerechnet: Fahrradstraßen mit und ohne Vollausbau (Screenshot aus der „Handreichung Fahrradstraßen“)

Letztlich wurde eben die vorher allzu schlecht benutzbahre Fahrbahn saniert – und eine Fahrradzone sprang halt irgenwie auch noch dabei raus… Sie hat mitnichten 2 Millionen Euro gekostet. Obwohl das Gesamtprojekt nur möglich war, weil es einen Zuschuss aus dem Sonderprogramm „Stadt und Land“ des Bundes in Höhe von rund 937.800 Euro gab, wie das Schleswig-Holsteiner Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus am 25.10.2023 stolz verkündete – deshalb, weil hier die Radverkehrsinfrastruktur ausgebaut wurde und so mehr Menschen zum Radfahren motiviert werden können. So, so.

Aber ja: Den immerhin 1.600 Radfahrenden pro Tag bleibt gleichzeitig in Zukunft die Nutzung des schmalen und verhuppelten Radwegs erspart. Mit dem Rest haben sie aber kaum was zu tun.

Und wer sich den „Länderspiegel“-Beitrag vom 24.2.2024 nochmal anschauen möchte, der all das Gegeifer in Gang setzte: Die Fahrradzone ist als „Hammer der Woche“ ab Min. 16:17 dran…

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Capital Africana de Bicicletas

Die Verteilungskämpfe, die um den öffentlichen Verkehr und die Teilhabe von Menschen zu Fuß und auf dem Rad geführt werden, sind schon hierzulande schwer genug. Aber wie sieht es in Städten aus, die mit weit mehr Problemen zu kämpfen haben als der ideologischen Ausrichtung von Verkehrspolitik? Stefan Ehlert hat für den Deutschlandfunk (hier anhören!!) in der selbsternannten „City of Bicycles“ nachgeforscht: in Quelimane, der Hauptstadt von Zambézia, einer Provinz in Mosambik. Deren Bürgermeister Manuel de Araújo regiert dort seit 2011 und hat sich von Anfang an für den Ausbau des Radverkehrs eingesetzt.

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Was banal klingt, war dort eine kleine Sensation: In Quelimane, wo es bis dahin weder Ampeln noch Zebrastreifen gab, wurde vor ein paar Jahren der erste Radweg Mosambiks eingeweiht. Eigentlich logisch, denn Radfahrer*innen machen nach Fußgänger*innen den Großteil des Straßenverkehrs aus; und trotzdem eine hart durchgesetzte Entscheidung.

Quelimane in Zahlen - Quelle: https://www.transformative-mobility.org/assets/publications/8.-TUMI-City-profile-and-story-Quelimane.pdf
Quelimane in Zahlen (Quelle: https://www.transformative-mobility.org/assets/publications/8.-TUMI-City-profile-and-story-Quelimane.pdf)

Araújo und sein Regierungs-Team machten damit aus der Not eine Tugend, denn dass dort mehr Menschen zu Fuß gehen oder Fahrrad fahren, ist Ausdruck von Armut, nicht eine bewusste Entscheidung im Sinne des Klimaschutzes. Aber: Wenn sich schon nicht alle, die gerne ein Auto hätten, eines leisten können, so sollen sie wenigstens unter bestöglichen Umständen alternativ unterwegs sein. Und umweltgerecht ist das eben auch. Und darf dann auch gerne gefeiert werden! In Quelimane wollen sie als capital africana de bicicletas die Transition des Kontinents zum sustainable transport anstoßen. Deshalb setzt Araujo seine internationalen Gäste auch erst mal aufs Rad und fährt mit ihnen durch die Stadt – auch wenn er dabei zuletzt durch einen eigenen Fahrradunfall auf einer Tour mit den Botschaftern der USA und Indonesien unfreiwillig demonstrierte, wie gefährlich Quelimanes Straßen zuweilen noch sein können auf zwei Rädern.

Moçambique: Bicicletas táxi em Quelimane - Foto von Antónia Silva, public domain (Quelle: https://globalvoices.org/2012/09/20/mozambique-photos-of-bike-taxis-in-quelimane)
Fahrrad-Taxis in Quelimane, 2012 (Foto von Antónia Silva, public domain – Quelle: https://globalvoices.org/2012/09/20/mozambique-photos-of-bike-taxis-in-quelimane)


Was Quelimanes Stadtbild prägt, sind die mehr als 5000 taxis de bicicleta, die damit womöglich ebenso viele Staupotenziale auf vier Rädern ersetzen. Und nicht nur das: Rund um die taxistas entstand ein Netzwerk aus Teilehändlern und Freiluft-Reparaturwerkstätten. Denn die Räder aus indischer oder chinesischer Produktion haben zwar weder Gangschaltung noch Licht und wurden im Zuge der Coronakrise beständig teurer, aber eben nicht qualitativ besser. Um von den 20-30 Cents, die eine Fahrt mit Passagier*in auf dem schmalen, gepolsterten Gepäckträger bringt, leben zu können, wird es deshalb immer enger: alle paar Tage ist wieder eine Reparatur fällig. Umso wichtiger also, dass zumindest die Arbeitsumstände sicherer werden und ein weiteres Geschäftsrisiko minimieren.

In Seitenstraßen auch mit ohne Autogefahr… (Quelle: (WT-shared) Kevin James auf wts wikivoyage -> Lizenz)
In Quelimanes Seitenstraßen auch mit ohne Autogefahr… (Quelle: (WT-shared) Kevin James auf wts wikivoyage -> Lizenz)

In Maputo, Mosambiks Hauptstadt und mit 3 Millionen Menschen ungleich größer als Quelimane, leben Radfahrer*innen auch ungleich gefährlicher. Auch dort fahren taxistas de bicicletas, haben aber gegen die Massen an Autos und Bussen, die Tag für Tag fast 500.000 Pendler*innen in die und aus der Stadt bringen und Ampeln zu gerne ignorieren, kaum eine Chance. Ebensowenig wie die, denen das Fahrrad als Sportgerät gefällt. Das sind immerhin einige hundert – fahren allerdings können sie in erster Linie nur morgens gegen 5 Uhr, auf der prominenten Uferstraße. Nach 7 Uhr wird das zu gefährlich, auch wenn einige sich mit einem Radargerät behelfen, das sie warnt, falls ein (zu) schnelles Auto von hinten kommt… Zum Vergleich: In Mosambik gibt es ähnlich viele Verkehrstote wie hier – allerdings fahren in Deutschland etwa 13 Mal mehr Autos.
Doch im Gegensatz zu Quelimane rechnen die Rad-Aktivist*innen von Maputo nicht damit, dass sie trotz organisierten Protests ihr Ziel bald erreichen: Das Fahrrad wie in Quelimane als Massenphänomen durchzusetzen und auch dort den 1. Radweg anzulegen. Das Projekt ist längst geplant, aber die Rad-Vereinigung Maputos bleibt realistisch: In fünf Jahren könnte es soweit sein!!!

Maputo-Stau - Foto von Jcornelius via Wikimedia Commons (Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en)
Einer der legendären Maputo-Staus (Foto von Jcornelius via Wikimedia Commons -> Lizenz)

Auf dem Land hingegen bleibt das Fahrrad lebenswichtig. Deshalb hat Maputos einzige FahrradfabrikMozambikes“, die gleichzeitig ein social venture ist, genug zu tun und liefert jede Woche 350 Räder aus, die mit belastbaren Gepäckträgern für den ruralen Warentransport konzipiert sind, aber auch ohne Schaltung (der kaum zu realisierbaren Wartung wegen) für das Unterwegssein an sich unverzichtbar sind. Nicht zuletzt mit Spenden aus aller Welt organisiert Mozambikes nicht nur Workshops zum Fahrradfahren, sondern stattet auch Schulen, Kleinunternehmen und öffentliche Einrichtungen mit Rädern aus. Motto: One Bicycle at a Time. Und daraus sind seit 2010 schon unzählige geworden, und jedes einzelne bedeutet Unabhängigkeit, Bewegungsfreiheit, Empowerment.

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In Quelimane jedenfalls bleibt Araújos Team optimistisch. Nächster Schritt: eine erste Fahrrad- und Zu-Fuß-Straße, komplett gesperrt für den motorisierten Verkehr. Noch 2023 soll es soweit sein. Sehr, sehr gut.



Anschrift

at Fahrräder
Beckergrube 63
23552 Lübeck

Tel. : 04 51 – 798 22 68

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